Warum Faulheit und Sorglosigkeit auch gut sein kann

10 November 2019 |

Kategorien:Allgemein

Disclaimer:

Ich bin in meiner Arbeit als Ärztin, Ernährungs- und Gesundheitscoach sowie Ayurveda Expertin seit Jahren tätig und ich wünschte, ich müsste diesen Artikel nicht schreiben. Auch habe ich nicht geplant, dass diese Gedanken veröffentlicht werden, aber genug ist genug. Ich möchte hier eine offene und ehrliche Debatte über den aktuellen Gesundheitswahn anstossen und bin gespannt deine Meinung zu hören.

Es ist morgens 8 Uhr. Ich öffne für den ersten Moment des Tages meinen Instagram Account und scrolle bei einer Tasse Kaffee (ja, ganz normaler Kaffee!) durch den Feed. Fast sofort bereue ich diese Entscheidung, denn das einzige, was mir entgegen springt sind fitte, dünne Yogis, die in akrobatischen Posen turnen und durchgestylte Food Accounts, wo die Speisen weder Fett, Zucker, Gluten, Milchprodukte oder ein Fünkchen Genuss enthalten. Oder ich kann lesen wer schon seit 4:30 wach ist, super produktiv war und warum wir ohne die „goldenen Stunden“ des Morgens niemals erfolgreich, produktiv, gesund oder fit werden.

Ähm, Hallo? Bin ich hier richtig?

Und verstehe mich bitte nicht falsch! 

Auch ich stehe sehr gerne früh auf (das liegt in meiner Vata-Natur) und mache Yoga oder gehe Joggen bevor der Rest der Familie sich aus dem Bett schält (Ich habe eine 2,5-jährige Tochter. Ab dem Zeitpunkt, ab dem sie wach ist, ist schlichtweg an eine ruhige Yogapraxis nicht mehr zu denken. Das ist ok, deshalb bleibt mir aber gar nichts anderes übrig als meine Bewegung vorher für mich zu machen). 

Auch ich finde, dass gesunde Ernährung wichtig und notwendig ist, dass wir nicht ständig nur Zucker oder Fertigprodukte in uns hineinstopfen können. Ich liebe mein Porridge, mein heisses Wasser, meine ayurvedischen Reinigungsrituale und alles drum herum. 

Doch ist das das einzige, was uns gesund hält, glücklich macht und für ein erfülltes Leben ausschlaggebend ist? Sicher nicht!

Denn erstens ist es vollkommen typpabhängig wie und wann du eine „Morgenroutine“ für dich machst: Diese muss nicht mal im Morgengrauen stattfinden, sondern es geht hierbei schlichtweg darum, dass du dir innerhalb von 24 Stunden eine vernünftige Portion Zeit für dich selbst nimmst. Ob das gleich nach dem aufstehen, Mittags wenn das Kind schläft oder Abends ganz in Ruhe ist, ist mir dabei ehrlich gesagt herzlich egal. Hauptsache du tust etwas für dich und integrierst diese wichtigen Momente der Selbstfürsorge. Und dabei kann Selbstfürsorge für dich genau das bedeuten, was du brauchst um dich gut zu umsorgen. Für die einen ist es Yoga oder Meditation, der nächste tanzt gerne eine Runde zu Punk Musik und die dritte Person geht am Abend gerne noch laufen. Whatever works for you….

Der Punkt, auf den ich hier hinauswill ist, dass wir in der Gesundheits- und Persönlichkeitsentwicklungsindustrie an einen Punkt gekommen sind, der von Perfektionismus und Dogmen kaum zu übertreffen ist. Auch wenn wir das gerne hinter „das ist sooooo wichtig für dich, deine Gesundheit braucht das uuuunbedingt“ verstecken.

Und weisst du was? Perfektion ist der Nummer Eins Auslöser für Stress. Dieses Gefühl nicht genug zu sein und letztendlich wird sich diese Daueranspannung unglaublich auf deine Gesundheit auswirken, die du ja mit all diesen wunderbaren Empfehlungen (die vielleicht einfach nicht die passenden für dich sind) um jeden Preis positiv beeinflussen möchtest.

Auch mir ist es das grösste Anliegen, dass jeder von uns EINFACH GESUND LEBEN kann, aber häufig wird sich eben nicht auf das EINFACH und LEBEN fokussiert, sondern lediglich  auf das Wort GESUND und dafür unerreichbare Standards aufgerufen.

Das bringt natürlich Geld, denn so kann mit Kursen, Fitnessprogrammen, Ernährungsprodukten, Vitaminen und so weiter eine Menge Geld verdient werden. Viele Angebote sind eine unglaubliche Unterstützung und verbessern viele Leben, das ist unbestreitbar und ich bin um jeden/jede meiner Kolleginnen dankbar, die ihre ganze Passion, Energie und hochwertiges Wissen in ihre Arbeit steckt und meine Vision von einer gesunden Gesellschaft teilt. Für mich gibt es kein höheres Gut als Gesundheit.

Es geht viel mehr darum, dass es wichtig ist für sich selbst genau hinzuschauen und seine eigenen Standards zu setzen. Was tut mir eigentlich gut? Was kann ich einfach für mich umsetzen? Wobei verspüre ich Genuss, Freude und Spass?

Was mache ich nur, weil „man es so macht“ oder „xy sagt, dass ist das beste, was du für deine Gesundheit machten kannst, auch wenn es nicht schmeckt, widerlich riecht oder dich völlig überfordert.“

Und Gesundheit ist wahrlich kein Wettbewerb, sondern ein individueller Weg, denn jeder für sich testen, formieren und gehen darf. Als Gesundheitsexperten dürfen wir hierbei zurückhaltende Wegbegleiter sein, Inspirieren und den notwendigen gut gemeinten Push geben, wenn notwendig. Aber das war es! Vor allem eins nicht noch unterstützen: Die Überforderung an Angebot, Meinung und Predigens.

Grundlose Lebensmitteltabellen, strikte Pläne für Morgenroutinen, Pülverchen und Co, nur weil man es so macht? Morgens so früh aufstehen, weil das die einzige Formel zum Erfolg darstellt? Ausgefeilte Trainingspläne, die kaum Zeit lassen für etwas Zeit zum Sein? Nein Danke!

Denn ich verrate dir hier gerne zwei Dinge:

Weniger ist immer mehr!

Und Faulsein, nichts tun und einfach geniessen sind unglaublich wichtige Faktoren für deine Gesundheit. Der Genuss und mal 5 Grade sein lassen, wird leider mit der Zeit verlernt und braucht wieder mehr Raum und Auslebung!

Warum weniger immer mehr ist:

Wie vieles in unserer schnelllebigen Gesellschaft gehen wir auch mit unserer Gesundheit extrem verkopft, verplant und emotionslos um. Wir gehen nicht joggen, weil es so schön ist in der Natur die Geräusche der Umwelt warhzunehmen, sondern wir hieven uns nach der Arbeit in einem muffeligen Fitnessstudio auf ein Laufband, hören den nächsten Podcast zur Selbstoptimierung dabei und fühlen uns hinterher vielleicht verschwitzt und ausgepowert, aber nicht geerdet und gut.

Häufig haben wir so viele Dinge, die wir für unsere Gesundheit tun wollen, dass dies in einen wahren Stress ausarten kann. Ich nehme mich da selbst nicht raus, denn mir passiert das nur zu oft.

Ein klassisches Beispiel:

Mein Mann und ich haben beide eine knallvolle Woche hinter uns und freuen uns auf den Freitag Abend. Ich denke „ Ui, ich sollte Joggen gehen, dann vielleicht noch etwas Yoga und am besten den Kühlschrank noch mit Grünzeugs füllen, dass ich auf jeden Fall nährstoffreiches Essen zu hause habe.“ – Ding, ding, ding – Stress, innere Anforderung und Aktionismus pur.

Mein Mann hingegen denkt „Super, ich lege mich auf die Couch, schaue einen guten Film und später bestellen wir eine Pizza. So können wir die Woche ohne viel TamTam ausklingen lassen, gut schlafen und morgen ausgeruht in die Berge fahren.“

Du kannst dir wahrscheinlich vorstellen, wer in diesem Moment der wahre Yogi von uns ist, den Moment geniesst und sein Nervensystem so richtig in die Entspannung bringt. Sicherlich nicht ich!

Und das heisst wiederum nicht, dass ich propagiere ab jetzt die Yogamatte verstauben zu lassen und nur noch von Pizza und Bier zu leben, ganz im Gegenteil, aber manchmal ist dies die bessere Lösung – vor allem für deine Gesunheit.

Noch extremer wird dies, wenn wir ohne unseren „healthy lifestyle“ gar nicht mehr können und nahezu zwanghaft unser Ernährungsregime, Fitnessprogramm und Co durchziehen. Mittlerweile kennt die Medizin dafür sogar einen Ausruck, es wird Orthorexie gennannt. Die Sucht nacht dem dauerhaft gesunden Leben…

Und auch rein neurobiologisch macht dieser Zustand uns letztendlich wirklich krank, denn auch das versetzt dich in einen permanenten Dauerstress, der unterschwellig und „stumm“ abläuft, aber immer da ist. Dieser ist wirklich gefährlich und sorgt für einen Raubbau an deiner mentalen und physischen Gesundheit. Es schafft zudem noch neue Stresssituationen: Auf einmal kannst du nicht mehr ausgelassen, mit Freunden oder auf dem Sofa Pizza essen, denn “eigentlich“ wäre es ja besser eine Suppe oder oder oder (was auch immer als “gesund“ gestempelt ist) zu sich zu nehmen. Es geht auch hierbei ganz viel darum, WIE wir etwas machen. Wie unsere Gedanken dabei sind.

Deshalb hinterfrage dich (und alle Gesundheitsexperten – inklusive mir) immer ganz ehrlich. Ist dir das zuträglich? Hilft es dir wirklich gesund zu leben? Hast du Freude daran? Siehst du positive Veränderungen? Kannst du intuitiv an die Sache gehen oder warnt dein Kopf dich ständig vor „bösen“ Lebensmitteln?

Hör genau hin, du kennst dich am besten! Und nimm dir aus dem reichhaltigen Gesundheitsbuffet wirklich nur das, was für dich stimmt. Nicht weil jeder das so macht. Und ds bedeutet eben manchmal (nicht immer!!) auch einmal  „ungesund“ zu essen, „nichts zu tun“ und faul zu sein. Du warst überrascht wievielen meiner Klienten ich das empfehle!

Natürlich werde ich dich gerne auch weiterhin meine Empfehlungen auf den Social Media Kanälen, Podcast und Co mitgeben. Da wird auch mal ein frühes Aufstehen, meine Morgenroutine, Green Smoothie, etc. vorkommen. Denn ich liebe all das, aber auch nur zu einem gewissen Mass. Und ich hoffe, dass ich es schaffe, dich darin zu inspirieren dies nicht als Goldstandard anzusehen sondern als kleine Inspiration um dein eigenes Ding zu machen.